„Wieviel Freiheit haben wir im Umgang mit unserer Vergangenheit?“ Dieser Frage, die
Bernhard Schlink als Untertitel seines Vortrags stellte, geht er sehr differenzierend nach
und entwickelt seine Stellungnahme dazu aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. Wieweit
dürfen individuelle Verdrängungs- und Befreiungsprozesse des Erinnerns gehen? Schlink
wägt dies ab gegen die moralische Verpflichtung der Gesellschaft zum kollektiven Erinnern;
sind doch alle mit anderen Personen und somit mit der Gesellschaft insgesamt verbunden.
Ist da „die Befreiung vom Ich“ möglich, tolerierbar?
Besprechung im Mannheimer Morgen 12.2.2015
Lob des Erinnerns
von Thomas Gross
„Dass die Gegenwart nur gelingt, wenn die Vergangenheit erinnert wird“, das steht für den
Schriftsteller und Juristen Bernhard Schlink fest. Das gelte auch für jüngere Generationen,
die diese Vergangenheit gar nicht erlebt haben. Doch selbstverständlich ist für Schlink auch,
dass junge Deutsche angesichts des Holocausts „ebenso wenig wie Schuld Scham empfinden“
müssten. Erinnern sollten sie gleichwohl, das spürten etwa Studenten, wenn sie im Ausland
seien.
Mag es auch immer wieder eine individuelle Befreiung geben, die auf Vergessen beruht, so sei
die kollektive Erinnerung, die in eine Erinnerungskultur mündet, doch eine moralische Pflicht.
Die „Befreiung vom Ich“, die das Vergessen biete, könne kein Zustand von Dauer sein, so Schlink,
der in Heidelberg aufgewachsen ist. Es tauge nicht „als Drehbuch eines vollen und reichen Lebens“
– erst recht nicht zum Zusammenleben, resümiert der Autor seinen überzeugenden und
wohlformulierten Gedankengang.